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Daily shit, please!

Heute ist unsere Bundesregierung 100 Tage im Amt. Ein beliebter Anlass, um eine erste Bilanz zu ziehen und einen Ausblick zu wagen: Wie hat sich die neue Koalition eingegrooved, welche Projekte wurden schnell angegangen, was droht auf die lange Bank geschoben zu werden und wie könnte sich die weitere Legislaturperiode gestalten?

 

Ich muss zugeben, dass ich etwas mit mir gerungen habe, ob ich diesen Beitrag wirklich schreiben soll. Auf meiner To-Do-Liste stand er, seitdem die Große Koalition im Amt war. Denn die derzeitigen politischen Entwicklungen, speziell die der letzten Woche, drohen nicht nur diese Große Koalition zu beenden. Sie dominieren auch so sehr das politische Geschehen, dass Social Entrepreneurship & Co. derzeit einfach keine Rolle und keine Analyse wert sind. Scheinbar. Dazu später mehr.

 

Der Streit zwischen der CDU- und CSU-Fraktion, personifiziert in Angela Merkel und Horst Seehofer bzw. Markus Söder in Bayern, um die Frage, ob man Geflüchtete an der Grenze zurückweisen soll oder nicht (und welche Geflüchtete und wie wäre der Ablauf? Viele Fragen aus dem sogenannten „Masterplan“ sind nach wie vor nicht bekannt) hat fast so etwas wie eine Regierungskrise ausgelöst und wenn in meiner Twitter-Timeline derzeit auch mal andere Politik-News auftauchen, schrecke ich ganz kurz hoch: „Huch, das Thema gab es ja auch noch!“ Man möchte den handelnden Akteuren (ja, Akteuren!) in dem Fall gerne zurufen: Zurück zum daily shit! Macht einfach Eure Arbeit! So jedenfalls sieht es derzeit in meiner politischen Gefühlswelt aus.

Was hat sich für die #SocEnt-Szene getan?

Doch innerhalb dieser 100 Tage ist doch ein bisschen was passiert, die Ereignisse auf Bundesebene möchte ich hier gleich aufgreifen. Aber erinnern wir uns zunächst zurück an die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag:

  • „Social Entrepreneurship“ wurde explizit im Koalitionsvertrag genannt und soll unterstützt werden
  • auch „soziale Innovationen“ sollen gefördert werden, dieser Passus taucht nicht nur im Wirtschaftskapitel, sondern auch im Bildungskapitel des Koalitionsvertrags auf
  • Wie diese Unterstützung konkrete aussehen soll, ist im Koalitionsvertrag nicht festgehalten

Doch nun zu den Entwicklungen:

  • Wirtschaftsminister Peter Altmaier hielt im April eine Rede beim Startup Camp. Auch hier wurde wieder Unterstützung zugesagt, die Vorhaben aus dem GroKo-Koalitionsvertrag könnten nur ein Anfang sein und die weiter gesunkenen Gründungszahlen bezeichnete er sogar als „Alarmsignal“. Er brachte der Gründerszene viel Wertschätzung entgegen. Konkrete Maßnahmen oder gar eine Vision skizzierte er auch hier wieder nicht.
  • Einführung eines Innovation Council durch Staatsministerin Dorothee Bär. Bereits im Mai rief die Staatsministerin für Digitales einen Think Tank ins Leben. Wichtig! Eine gute Idee, die ja auch eines unserer großen Themen behandelt und aufgreift. Leider gibt es keine Vertreter*innen aus der Zivilgesellschaft oder aus dem #SocEnt-Bereich. Aber auch für einen Platz in einem solchen Think Tank kann man lobbyieren…
  • Bundeskanzlerin Angela Merkel war bei der Preisverleihung von startsocial, für die sie auch die Schirmherrschaft übernommen hatte. Ein symbolisches, aber öffentlichkeitswirksames Statement. Auch hier wurde wieder betont, die Bundesregierung wolle fördern und unterstützen. Wieder blieb das „wie“ offen.

Erkenntnisse für die Community

Wirklich viel an "hard facts" konnte ich auf Bundesebene nicht zusammentragen. Unsere Themen sind allerdings auch etwas sperriger, so dass nun wirklich nicht mit Gesetzesentwürfen in den ersten 100 Tagen gerechnet werden konnte. Was bedeutet das jetzt alles für uns und womit können wir in der aktuellen Legislaturperiode noch rechnen? In der Politik zählen neben Inhalt auch Symbolik und Gesten. Und das, was nicht erwähnt und nicht gemacht wird. Erlaubt mir auf dieser Ebene meiner Analyse daher ein kurzes Mini-Fazit:

  • Es gibt das Bekenntnis zu Social Entrepreneurship, es fehlen weiterhin die konkreten Projekte und Vorhaben. Und die Vision.
  • Social Entrepreneurship hat es nicht nach ganz oben auf die Agenda geschafft.
  • Der Koalitionsvertrag als Grundlage bietet viele Spielräume für kleinere Vorhaben. Die sollten wir nutzen. So erobern wir uns immer größere Räume. Die sich dann vielleicht im nächsten Koalitionsvertrag auswirken werden.
    Beispiel: Einen Platz im Innovation Council.
    Beispiel: Zuständigkeiten und Ansprechpersonen auf Verwaltungsebene klären.
  • Wir müssen endlich konkret ausformulieren, wie wir uns das "wie" vorstellen. Würde ich es überspitzt formulieren wollen: Scheinbar scheint man darauf nur zu warten, wenn ich immer wieder höre, dass man uns unterstützten will (aber nicht weiß, wie das geht).

Interessante Personalia

Nun möchte ich noch ganz kurz die Minister*innen unter die Lupe nehmen. Hier ist es immer interessant zu beobachten, wer welches Tempo vorlegt. Wurde ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag sehr schnell in ein Gesetzestext gegossen? Für mich haben sich - aus unserem Blickwinkel - besonders zwei Minister*innen hervorgetan: Katarina Barley und Hubertus Heil (beide SPD). Beide sind sehr schnell in einen Arbeitsrhythmus gekommen. Beide haben ziemlich schnell Projekte umgesetzt bzw. sogar schon Gesetze durchs Kabinett gebracht (Barley: Musterfeststellungsklage, Heil: Rechtsanspruch auf befristete Teilzeit), weitere Gesetze (Senkung des Arbeitslosenbeitrags verbunden mit einer Weiterbildungsoffensive) befinden sich bereits in der Ressortabstimmung. Und auch die befristete Beschäftigung und die Verbesserung der Mietpreisbremse haben die beiden schon in Angriff genommen. Barley, die das Justizministerium leitet und Heil, der das Arbeitsministerium leitet, sind beide neu in ihrer Behörde und beweisen enorme Betriebsamkeit und Vertragstreue: Der Koalitionsvertrag zählt! Vielleicht lohnt es sich, noch viel mehr mit den beiden ins Gespräch zu kommen. Beispielsweise für Ideen wie FSJler auch in Sozialunternehmen einsetzen zu können?

 


Haben sich bei Euch neue Entwicklungen in der Amtszeit der neuen Bundesregierung ergeben? Ich freue mich, wenn Ihr weitere Meilensteine oder Ereignisse mit uns in den Kommentaren oder in den Sozialen Medien teilt und zur Diskussion stellt!

 


Unter dem Radar

Ich möchte diesen Beitrag gerne auch noch für eine andere Dimension an Kommentar nutzen. Bewusst möchte ich hierfür meinen eingangs geteilten Gedanken nochmal aufgreifen: Ist der Themenbereich Social Entrepreneurship im Moment überhaupt einen Bericht wert? Meine Antwort: ja klar! Denn speziell die letzte Woche, speziell die „Flüchtlingspolitik“ zeigen doch eines: Wie wenig ganzheitlich, langfristig und nachhaltig bei den (politischen) Entscheidungsträger*innen und damit in unserer Gesellschaft gedacht und gehandelt wird.

 

Wenn einerseits die Klimaziele aufgegeben und als „unrealistisch“ (Peter Altmaier) bezeichnet werden, andererseits Geflüchtete, die uns in Zukunft im Zuge der Klimakrise noch mehr „drohen“, als Feindbild aufgebaut und abgewiesen werden sollen. Die Politikfelder und gesellschaftlichen Bereiche sind in den Köpfen zu wenig vernetzt, sie werden zu singulär betrachtet. Und das obwohl das Wissen ja bereits vorhanden ist.

 

Und von daher können wir als Social Entrepreneure gar nicht richtig wahrgenommen werden und laufen zwangsläufig etwas „unter dem Radar“. Obwohl unsere Zeit eigentlich gerade reif ist. Denn wir bieten ja gerade die so sehr benötigten Lösungen gesellschaftlicher Probleme. Wir irritieren und überfordern mit unserem ganzheitlichen Ansatz.

 

Das bedeutet für mich: Wir sind mehr gefordert denn je. Uns einzubringen. Uns aktiv einzuschalten. In gesellschaftliche Debatten. Im Freundeskreis. In der Politik. In unserem Netzwerk. Bei unseren Kund*innen. Es geht derzeit wirklich um alles und ich bin in großer Sorge um unsere Demokratie. Wir alle arbeiten schon lange nicht mehr nur an unserer Organisation oder unserem Sozialunternehmen. Wir gestalten unsere Gesellschaft. Und wir werden so dringend gebraucht.

 

Worin steckt unsere Chance?

Darin steckt für mich die ganz große Chance, uns als die ganzheitlich denkenden und handelnden Akteur*innen zu präsentieren, die wir sind. Auch außerhalb unserer Community. Und das mit einem klaren Kompass, der in eine solidarische, verantwortungsbewusste und nachhaltige Zukunft zeigt.

 

By the way beinhaltet es aber auch noch eine ganz praktische Chance: „Unter dem Radar laufen“ kann auch manchmal sehr angenehm sein. Es richten sich nicht alle Augen auf uns, während wir unsere politischen Aktivitäten vorantreiben. Und ist die Sehnsucht nach positiven Beispielen und erfolgreichen und schönen Projekten nicht besonders in Krisenzeiten besonders groß? Denn auch wenn das mediale Geschehen und das politische Berlin derzeit scheinbar nur ein Thema kennt: Die anderen Fachbereiche machen in der Tat ihren daily shit weiter. Siehe Hubertus Heil und Katarina Barley.

 

Was wir aber dafür tun müssen: Endlich eine Strategie entwickeln. Als einzelne Organisation und Sozialunternehmen. Aber auch als Community im Ganzen. Dieser Arbeitsauftrag bleibt.

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