· 

Manipuliert.

Drei Orangen, zwei Kiwis, eine Banane. Sie legte alles behutsam in das Einkaufskörbchen und hakte die drei Punkte von ihrer Liste ab.

 

Daheim filetierte sie nach der Rezeptanweisung die Orangen, schälte die Kiwis und schnitt diese in kleine Stücke. Zwei Scheiben ließ sie als Dekoration übrig und machte einen Schlitz hinein. Die JOY! empfahl für einen „besonders cremigen“ Smoothie, der „lange satt machte“, eine ganze Banane für zwei Personen. Lisa teilte die Banane in zwei Hälften, legte eine davon in den Kühlschrank; die andere Hälfte schälte sie und fügte alles in den Standmixer, in dem sich auch schon die Orangen- und Kiwi-Stückchen befanden. In einem separaten Messbecher füllte sie exakt 200 ml Milch ab. 0,1 % Fett. Wie es auch die JOY! Rezeptanweisung vorsah, neben der eine glückliche junge gesunde Frau mit einem Smoothie-Schnurrbart abgebildet war und beim Lachen ihre weißen Zähne zeigte. Auch die Milch schüttete sie in den Standmixer, schloss den Deckel und drückte auf „Power“. Sie teilte den Smoothie auf zwei Gläser auf und dekorierte die Ränder je mit einer Kiwi-Scheibe. Wie es der Serviervorschlag in der JOY! vorsah. In eines der Gläser fügte sie fünf Löffel Zucker hinzu und verrührte den Smoothie kräftig.

 

„Das Dessert ist fertig“, rief Lisa und ging mit den beiden Gläsern ins Wohnzimmer. Eines davon reichte sie Andi.

„Oh, danke mein Schatz“, sagte er und nahm ihr das Glas ab. Er setzte zum Trinken an, das Deko-Kiwi-Stück rieb an seiner Wange entlang. Mit der freien Hand schnappte er sich das Obststück, schob es in den Mund, kaute zwei Mal und spülte mit einem großen Schluck nach. „Mmh, schön süß“, sagte Andi mit einem Grinsen. Nach einem weiteren Schluck war das Glas leer und er stellte es mit einem Klappern auf den Glastisch vor ihm ab. Lisa lächelte und nippte an ihrem Glas. Den Smoothie-Schnurrbart schleckte sie sich mit der Zunge weg.

„Dass dir deine Diät-Ratgeber so’n süßes Zeug empfehlen… Die Diät gefällt mir, bin dabei!“

Lisa lächelte wieder während sie erneut nippte.

„Haste Lust auf den Spielfilm?“

Sie nickte. „Ja, warum nicht.“

 

Andi schaltete den Fernseher ein. Es lief gerade noch die letzte Nachrichtenmeldung:

 

Eine Gruppe von Aktivisten verhängte in der Grazer Innenstadt Werbeanzeigen im öffentlichen Raum mit gelben Bannern. Das als Kunstaktion angemeldete Projekt möchte auf die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums und die unabwendbare Beeinflussung von Individuen aufmerksam machen. Die Banner werden eine Woche lang die Werbeanzeigen verbergen.

Und jetzt das Wetter...

 

Andi bedeutete ihr, sich neben ihn zu setzen und streckte ihr einen Kussmund entgegen. „Danke für das leckere Essen, mein Schatz. Komm,

jetzt leg dich mal her und ruh’ dich aus.“ Er streichelte ihr zärtlich über Kopf und Nacken.

„Ich mach noch meine Sit-Ups“, sagte sie und entwand sich seinen Berührungen.

„Jetzt noch? Du warst vorher doch schon im Fitnessstudio…“

„Ja, aber die Bauchübungen hatte ich nach der Cardio-Stunde nicht mehr geschafft. Und bei den Bauchübungen muss man echt am Ball bleiben!“, rief sie aus dem Nebenzimmer, aus dem sie jetzt mit ihrer Yogamatte zurückkehrte.

„Schade, ich dachte, wir kuscheln noch ein bisschen.“

„Danach.“

 

Die ersten 24 Minuten des Spielfilms verbrachte Lisa mit Standübungen. Untere Bauchmuskulatur, obere und seitliche Bauchmuskulatur. Die Standwaage kräftigte Po, Rücken und die Hinterseite der Oberschenkel. Dann ging es runter auf die Matte. Halteübungen. Das Brett. 3x1 Minute. Der Schweiß rann über ihr Gesicht. Sie blieb im Brett und hob nun abwechseln den linken Arm, den rechten Arm, das linke Bein, das rechte Bein.

 

Andi stand von der Couch auf und ging in die Küche. Lisa hörte, wie der Kühlschrank geöffnet wurde.

„Kann ich die halbe Banane noch haben?“

„Ja“, rief sie zwischen zwei Twists.

Nur wenige Minuten später kam er schmatzend und mit zwei belegten Brotscheiben zurück ins Wohnzimmer.

„Hatte noch Hunger“, sagte er, zog dabei entschuldigend die Schultern nach oben und grinste breit. „Bin zu schwach für Diät.“

Lisa fuhr inzwischen auf der Matte sitzend, den Rücken vom Boden gelöst, mit den Beinen in der Luft Fahrrad und wechselte durch die Beine einen Ball von links nach rechts, von rechts nach links, von links nach rechts.

„Ah, ich kann nicht mehr“, sagte sie nach 3 Sätzen à 20 Wiederholungen.

„Komm auf die Couch, mein Schatz. Du warst fleißig genug“, sagte Andi und hielt ihr sein Schinkenbrot entgegen. Ihre Augen begannen zu leuchten und sie nahm dankbar einen Bissen.

„Kann ich den Rest haben?“, fragte Lisa.

„Hau rein.“

20 Minuten später küsste sich das Spielfilmpaar und besiegelte das Happy End.

 

Lisa erledigte ihre Morgenroutine. Setzte das Teewasser auf. Dazwischen ein paar Dehnübungen. Zähne putzen. Fenster öffnen. Die Wohnung durchlüften. Den Tag hereinlassen. Obstsalat schnibbeln zum Frühstück. Das Mittagessen für das Büro vorbereiten. Andi hörte ihr gern dabei zu. Sie bewegte sich so zart über den Fußboden. Die Badtür ging zu und er hörte, wie die Waage über die Fliesen kratzte. Hoffentlich zeigte sie ein paar hundert Gramm weniger an als gestern, dann würde es ein guter Tag werden. Er stand auf und goss das Teewasser, das bereits gekocht hatte, in die vorbereitete Kanne.

 

Lisa musste auf dem Weg zur Arbeit umsteigen und ein paar Minuten auf die nächste U-Bahn warten. Am Bahnsteig trat sie von einem Bein auf das andere. Sie betrachtete die Anzeige für einen Bikini. Zum Auftakt der Saison hatte sie sich genau diesen geholt. Die Urlaubsfotos, die Andi von ihr in dem Teil gemacht hatte, hatte sie aber alle gelöscht. Widerliche Speckröllchen hingen ihr darauf links und rechts hinunter. Andi hatte auch einfach kein Gespür für’s Fotografieren! Oder vorteilhafte Posen. Die U-Bahn fuhr ein.

 

„Kommst Du heute Mal mit zum Mittagessen, Lisa? Gegenüber hat ein neuer Asiate aufgemacht, den wollen wir mal testen“, sagte Christian. Er fuhr jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Arbeit. Könnte sie eigentlich auch mal machen. Mit dem richtigen Bike wäre das schon machbar.

„Danke, ich bin noch nicht so hungrig. Aber geht ihr ruhig ohne mich. Berichtet mir unbedingt, ob er zu empfehlen ist.“

„Das machen wir.“

Die Kollegen zogen ihre Jacken an und verließen einer nach dem anderen das Büro. Beim Rausgehen lästerten sie über nervige Kunden, Christian machte einen lockeren Spruch und die Runde lachte herzhaft. Lisa tippte weiter auf ihre Tastatur ein. Die Tür fiel ins Schloss. Lisa schickte die E-Mail ab, nahm ihre Tupperdose und ihr Smartphone aus der Handtasche und setzte sich damit in die Büroküche. So ruhig war es selten in den Räumen. Sie öffnete den Behälter und drappierte das Essen schön hin. Sie stand auf und holte die Blumenvase vom Empfang, in der heute eine voll aufgeblühte orangene Rose steckte, stellte sie neben die Lunchbox und knipste von oben ein Foto.

 

Ein herrlich leichter Sommersalat mit #Cranberries, #Ziegenkäse und #Avocado. Genießt eure #Mittagspause! // #CleanEating #officelife #wohlfühlen

 

Schrieb sie und setzte den Post bei Instagram ab. Sie begann zu essen und scrollte sich bei den Fotos der anderen durch. Ihre Bubble zeigte ihr viele weitere herrlich leichte Sommersalate, von denen sie sich ein paar für neue Rezeptideen speicherte. Menschen im Fitnessstudio. Beim Gewichte heben. Joggend in der Natur. Oder sich an den Stränden dieser Welt im Bikini räkelnd. Zwischendurch nahm sie immer wieder einen Bissen, während sie weiter scrollte. Als sie fertig war, durchsuchte sie den Küchenschrank. Aus einer Tüte Vollkornknäckebrot nahm sie sich zwei Scheiben und setzte sich damit zurück an den Schreibtisch. Als ihre Kollegen von der Mittagspause zurückkehrten, tippte sie schon wieder auf ihre Tastatur ein.

 

Andi hatte nichts mehr hören wollen. Nichts zu ihrem aufgeblähten Bauch. Nichts zu neuen Rezepten. Nichts zu dem ungesunden Essen auf der Grillparty. Nichts über Fitnessmuffel.

 

Frau Zimmermann hatte gesagt, sie müsse lernen, ihre eigenen Kriterien, ihr eigenes Wohlbefinden zu entwickeln. Nur Ihr Maßstab zählt. Bei sich sein. Nicht von den anderen ausgehen. Was sie gerne macht, was ihr Freude bereitet? Etwas, das sie nur für sich macht. Die Waage entsorgen. Lisa ließ weiter den Pinsel über das Papier tanzen.

 

Auf dem Weg zur Arbeit. Die U-Bahn verspätete sich. Die Anzeigentafel war abmontiert worden. Nur der Farbunterschied an der Wand war übrig geblieben.

 

Beim Mittagessen mit den Kollegen erzählte Christian ausgiebig von seinen Flitterwochen und unterhielt damit wie immer die ganze Runde. Das scharfe Essen war ihnen nicht so bekommen. Er ließ sein Handy rumgehen und zeigte ein paar Schnappschüsse. Seine Frau und er strahlten vor dem Taj Mahal. Liebevoll hatte er ihr den Arm um die Taille gelegt.

 

Lisa setzte sich zurück im Büro an ihren Schreibtisch und schrieb Andi eine SMS: „Wo wollen wir dieses Jahr Urlaub machen? Kuss“ Sie öffnete die Instagram App und löschte ihr Konto.

 

Auf dem Heimweg ging sie noch kurz zum Supermarkt. Zu Hause fehlten Milch und Brot. Am Regal mit den Zeitschriften blieb sie stehen und griff sich eine davon. Andi hatte ihr JOY!-Abo gekündigt. Beim Durchblättern entdeckte sie die Präsentation ihrer Lieblings-Bademoden-Marke. Bei einem Modell in einem knappen pinkfarbenen Bikini blieb ihr Blick hängen. Die Frau war braun gebrannt, ihre Zähne strahlten weiß. Taille, Po und Bein waren kurvig und trotzdem fest und definiert. Rechts unten stand ein kleiner Vermerk: „Dieses Bild wurde nachbearbeitet und zeigt nicht die Realität.“ Lisa legte die Zeitschrift zurück ins Regal.

 

Andi war bereits zu Hause und hatte Abendessen vorbereitet. Er steckte den Kopf aus der Küche.

„Hallo meine Schöne“, sagte er und warf ihr eine Kusshand zu, die sie imaginär mit dem Mund auffing. Lisa legte Mantel, Handtasche und Schlüssel ab und zog sich etwas Bequemes an. Sie ging zu Andi in die Küche. Er stand am Herd und verrührte die Nudeln in der Pfanne mit der Sauce. Sie stellte sich hinter ihn und legte ihre Arme um ihn, gab ihm einen Kuss auf den Hals, wofür sie sich ein bisschen auf die Zehen stellen musste, und sagte: „Duftet sehr lecker.“ Sie setzte sich an den gedeckten Tisch und zündete die Kerze an. Andi häufte Spaghetti auf die Teller und wünschte Guten Appetit. Lisa kringelte sich Spaghetti in den Löffel und führte ihn zum Mund. Die wohlig warme Käse-Sahne-Sauce schmeckte köstlich.

 

Tief in ihr drin löste sich eine Verspannung. Etwas in ihr lächelte.

 

Es war ihre Seele.


Politik kann ein trockenes Thema sein. Ich möchte es Euch so schmackhaft(!) wie möglich machen! Daher findet Ihr auf meinem Blog nicht nur Fachartikel. Sondern auch ab und zu mal eine Kurzgeschichte, die ein bisschen ins Herz gehen darf. Politische Rahmenbedingungen bestimmen unseren Alltag. Das meiste ist nicht in Stein gemeißelt. Und Politik ist der Hebel zur Veränderung.

 

Ich freue mich wie immer über Deine Rückmeldung als Kommentar oder per Mail. Oder teile die Geschichte in einem Sozialen Netzwerk, wenn Du diesen Selbstoptimierungswahn genauso schrecklich findest!

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Gustav Sucher (Dienstag, 18 Dezember 2018 09:49)

    Haha, da sieht man mal, wie stark wir uns täglich manipulieren lassen. Wer daraus einen schlimmen Begriff erstellt, der hat noch nicht verstanden, dass wir täglich eigentlich nur noch auf Manipulationen reagieren. Diäten mit Zucker funktionieren nur selten. Danke für den tollen Beitrag! https://www.mittreu.de/unternehmensberatung